12. Oktober 2018, Episode 27
Zukker im Leben (D)
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Guten Tag, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, heute ist der 12. Oktober, herzlich willkommen zu einer weiteren Sendung von Typisch Helene. Ich hoffe, es geht Ihnen gut, und Sie probieren gerade fleissig alle kulinarischen Köstlichkeiten aus, die der Herbst zu bieten hat. Kürbissuppe, zum Beispiel, oder Rehschnitzel, oder dann natürlich Vermicelles, dieses Dessert aus Kastanienpüree, das aussieht, als hätte man einen Haufen Würmer auf den Teller gepresst [1]. Köstlich! Wie Sie jetzt wohl erahnen [2] können, reden wir heute über genau diese Vermicelles. Vorher aber blicken wir noch einmal nach Ägypten. Ich habe Ihnen ja in der letzten Sendung erzählt, warum es in Ägypten immer mehr unverheiratete Frauen gibt – und dass sie als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit gelten. Ich erkläre Ihnen gleich, warum man sie als eine Gefahr betrachtet, und was Frauen durchmachen [3], wenn sie nicht verheiratet sind.
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8 bis 12 Millionen – so viele unverheiratete Frauen gibt es derzeit in Ägypten. Das sind bei einer Bevölkerungszahl von etwa 104 Millionen beachtliche Zahlen. Und genau die machen konservativen Politikern Angst. So glauben viele, dass all die Singlefrauen schädlich sind für die Stabilität der ägyptischen Familie. Zudem sehen sie in den Singlefrauen eine Ursache für sexualisierte Gewalt. Denn wo unverheiratete Frauen sind, so ihre Logik, sind auch unverheiratete, sexuell frustrierte Männer. Solche Aussagen werden zwar heftig [4] kritisiert. In Ägypten gäbe es ganz andere Probleme: Terrorgefahr, Inflation, die Verdopplung [5] der Lebensmittelpreise, Armut. Ein Viertel der Ägypter lebt von kaum mehr als einem Dollar pro Tag. Doch die Konservativen sind unter Druck [6]. Sie haben Angst, dass mit den Singlefrauen lasterhafte [7] westliche Gewohnheiten in Ägypten Einzug halten [8], allem voran sexuelle Beziehungen vor der Ehe. Und das könnte dem Image, besonders aber dem Selbstverständnis [9] der Nation als islamische Gesellschaft schaden.
Aber – es gibt etwas, das viel “gefährlicher” ist als alles andere: Die Selbstbestimmung der Frau. Das heisst, der Anspruch [10] einer Frau, ganz allein darüber zu entscheiden, wie und mit wem sie ihr Leben leben möchte. Das ist in Ländern wie der Schweiz längst normal. In anderen Ländern aber sind Frauen, die selbst über ihr Leben bestimmen, noch in der Minderheit [11], und sie handeln gegen alle Konventionen und Traditionen ihrer Gesellschaft. Und das stösst auf Unverständnis und Widerstand.
Was es nun aber tatsächlich heisst, in einer sehr konservativen Gesellschaft gegen den Strom zu schwimmen [12], erzähle ich Ihnen am Beispiel von Heba Saad. Ich habe Heba während meiner Reportage kennengelernt. Sie ist 33 Jahre alt und eben: unverheiratet. Und das bedeutet so viel wie tot zu sein. “Bist du 19 und hast noch nicht geheiratet”, sagt sie, “solltest du dich beeilen, denn nun beginnt die Phase des Zerfalls [13]. Bist du 25 und single, fängt man an, um dich zu trauern. Hast du mit 30 noch keinen Mann, erklärt man dich für tot.” Für eine Frau, die in den Augen vieler Ägypter seit drei Jahren als tot gilt, hält sich Heba jedoch erstaunlich aufrecht [14]. Sie sitzt kerzengrad, trägt Kopftuch und einen langen blauen Mantel. Es ist nicht so, dass Heba keinen Mann gefunden hätte, als Geschäftsfrau hat sie viele Bewerber [15]. Sie ist single, weil sie schon früh erfahren hat, dass Männer das Leben von Frauen zur Hölle machen können. “Mein Vater und mein Bruder haben immer nur zwei Dinge getan”, erzählt sie. “Sie haben herumgebrüllt und das Haushaltsgeld verschwendet [16].” Deshalb hat sie sich geschworen, unabhängig zu bleiben.
Heba produziert Männerkleider, Unterwäsche, um genau zu sein. Standardmodelle in Weiss. Sie beschäftigt elf Näherinnen, ihre Fabrik steht in einer Kleinstadt im Nildelta, etwa 100 Kilometer von Kairo entfernt. Heba ist als Unternehmerin sehr erfolgreich, dafür wird sie geachtet [17]. Doch mindert [18] es das Stigma nicht, das ihr als Unverheiratete anhaftet [19]. Die Leute behaupten, Heba habe den bösen Blick. Sie hatte eine Freundin, die in einem Supermarkt arbeitete. Als diese geheiratet hatte, hörte sie auf, mit Heba zu reden. Eine andere verbot Heba, ihr Baby zu berühren, weil sie fürchtete, dass dann auch das Kind in seinem Leben Unglück erleiden [20] würde. “Das tut weh”, sagt Heba. “Aber ich habe mich daran gewöhnt. Schliesslich war es meine Entscheidung.” Traurig wird sie nur, wenn ihre Mutter still um sie weint und sie bittet, zu heiraten, weil Heba sonst allein sein werde, wenn sie stirbt.
Geschichten wie jene von Heba habe ich in Ägypten viele gehört, und sie haben mich alle tief bewegt. Ich habe sie gesammelt und aufgeschrieben. Was mich aber ebenso sehr beeindruckt hat, ist, dass sich keine einzige dieser Frauen als Opfer fühlt. Im Gegenteil: Sie sehen sich alle als Pionierinnen ihrer Gesellschaft.
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Und jetzt, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, kommen wir, wie versprochen, zum Essen. Ich rede und schreibe ja sehr gerne übers Essen, was wiederum bedeutet, dass ich extrem gerne esse. Ich esse natürlich in erster Linie, um satt zu werden. Aber Essen ist für mich auch ein gesellschaftlicher, ja sogar kultureller Akt. So erforsche ich die Länder auf meinen Reisen am liebsten über die Köstlichkeiten der Küche, schnuppere [21] an Gewürzen und lasse mich von unbekannten Aromen überraschen. Und klar, mir schmecken diese Gerichte immer dann viel besser, wenn ich zusammen mit Freunden oder neuen Bekannten an einem Tisch sitze, als wenn ich sie alleine essen muss. Denn sobald ich alleine esse, dient die Mahlzeit nur noch dazu, den hungrigen Magen zu beruhigen. Das gilt für indisches Biryani Chicken wie für italienische Pasta an Tomaten-Speck-Sauce, schwedische Fleischbällchen, die “Köttbullar”, oder für Vermicelles. Und ja, jetzt sind wir beim Thema angelangt: Bei den Vermicelles.
Aber lassen Sie mich ausholen: Vermicelles ist ein typisches Schweizer Dessert, das es ausschliesslich [22] im Herbst gibt. Sobald man die Vermicelles in den Regalen der Läden oder Bäckereien sieht, weiss man, dass sich der Sommer endgültig verabschiedet hat. Und sollte man wegen des Sommers ein bisschen traurig sein, so kann man sich mit Vermicelles wunderbar trösten [23]. Vermicelles bestehen aus Esskastanien, in der Schweiz auch Marroni genannt. Sie werden in Milch gekocht, püriert und dann mit Butter, Vanille oder mit Kirschwasser [24] verfeinert. Für die typische Form wird die Marronimasse durch ein Lochblech gepresst, so dass etwa 15 Zentimeter lange "Würmer" entstehen. Das Wort Vermicelles stammt übrigens vom lateinischen Wort vermiculus, das so viel heisst wie Würmchen. Und damit schliesst sich der Kreis [25].
Ich gönne mir pro Saison etwa zwei Portionen dieser Würmchen und geniesse dann natürlich immer das ganze Programm. Das heisst: Ich bestelle Vermicelles auf Meringues und Vanilleglace mit Schlagrahm, die grosse Portion, bitte.
Und ganz wichtig: Ich esse die Vermicelles am liebsten auf einer Wanderung auf der Terrasse eines hübschen Bergrestaurants. Denn erstens vermischt sich dann der würzige Geruch des Herbstes mit den Aromen auf meinem Teller. Und zweitens weiss ich, dass ich auf dem Rest der Wanderung die Kalorien, die ich zu mir genommen habe, wieder verbrenne. Zumindest einen kleinen Teil davon. Aber eben, zwei Portionen müssen es sein. Die lohnen sich. Dann habe ich wieder genug für ein Jahr. Von den Vermicelles, wohlgemerkt. Denn sobald die Herbstsaison vorbei ist, kommt der Winter. Und der wiederum hält neue Köstlichkeiten bereit. Aber davon erzähle ich Ihnen ein anderes Mal.
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Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, das wars für heute. Wir hören uns wieder am 26. Oktober, hier auf podclub.ch oder via App. Dann werde ich Ihnen unter anderem von meinen Abenteuern auf der Luzerner Määs erzählen, dem Jahrmarkt in Luzern. Üben Sie bis dahin mit dem Vokabeltrainer in unserer App. Fotos zur Sendung finden Sie wie immer auf Instagram unter #zukkerimleben und #podclubnora. Ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit. Und eben, geniessen Sie das feine herbstliche Essen und probieren Sie eine Portion der Kastanien-Würmchen. Sie werden es nicht bereuen. Also dann, bis bald. Auf Wiederhören!